Nachrichten Wiesbaden 26.06.2014 - Wiesbadener Kurier
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Wenn Sucht lebensbedrohend wird
7,4 Millionen Erwachsene in Deutschland haben Alkoholprobleme. Doch nicht jeder erkennt, dass er Hilfe benötigt.
Von Heinz-Jürgen Hauzel
CARITAS Fachambulanz registriert steigenden Bedarf und beklagt parallel die Reduzierung der Personaldecke
WIESBADEN - "Ich bin zweimal umgefallen. Daheim." Das war für Harald Gores das Signal: "So geht’s nicht weiter." Er habe beträchtliche Mengen Alkohol getrunken, bekennt er. Und es klingt ein bisschen, als sei er immer noch ein bisschen stolz, dass er einen ordentlichen Stiefel vertragen hat. Erst die für ihn bedrohliche Situation bei den Zusammenbrüchen hat alles verändert. Auf die Entgiftung in den HSK folgte die ambulante Reha bei der Wiesbadener Caritas. Etwas über ein Jahr nutzte er das Angebot. Er wäre gern noch in der Therapie-Gruppe geblieben, aber der Kostenträger setzte einen Schlussstrich.
Heute vermisse er den Alkohol nicht mehr, fühle sich wohl, sagt Gores. Von allen Seiten wird ihm bescheinigt, dass er sich zum Positiven verändert habe. Aber die Schuldgefühle sind noch da. "Was ich meinen Mitmenschen alles zugemutet habe... Ich war ein richtiges Biest. Dass meine Frau bei mir geblieben ist, ist ohnehin ein Wunder", zeigt er sich dankbar. Er sei zwar nie gewalttätig geworden, aber in 33 Ehejahren "laufen natürlich viele Verletzungen".
- JAHRESBILANZ
2013 nutzten 699 Personen die Angebote der Fachambulanz für Suchtkranke des Caritasverbandes Wiesbaden-Rheingau-Taunus. 136 kamen zu einem einmaligen Beratungsgespräch, 563 Menschen haben zwei und mehr Termine wahrgenommen. Davon waren 387 Männer und 176 Frauen.
Die meisten Klienten (406) kamen aufgrund eines problematischen Umgangs mit Alkohol, an zweiter Stelle steht das pathologische Glücksspiel mit 126 Klienten.
In der ambulanten Rehabilitation erbringt die Caritas-Fachambulanz rund 50 Prozent ihrer Leistungen. 2013 nahmen 128 Personen das Angebot wahr, ein Jahr zuvor waren es 112.
Die anonyme Online-/E-Mail-Beratung war 2013 um 27,5 Prozent stärker nachgefragt als 2012. Diesen Weg der Kontaktaufnahme nutzten 153 Personen.
Die Fachambulanz für Suchtkranke in der Rheinstraße hat ihm zurückgeholfen. Wie auch Paul K. - der 61-Jährige arbeitet mittlerweile wieder, er hat einen Minijob angenommen und studiert nebenbei Psychologie. Er lobt die Einrichtung der Caritas über den grünen Klee. Die ambulante Form der Reha biete die Möglichkeit, im "normalen Umfeld" zu bleiben, "nicht auf einer Insel leben zu müssen". Er sei nun in der Lage, sich selbst zu helfen, ist Paul K. überzeugt. Aber er finde in der Fachambulanz auch heute noch immer einen Ansprechpartner. "Das ist hier wie eine Wand, an die man sich anlehnen kann." Er habe Lebensqualität zurückgewonnen, meint der 61-Jährige, und er könne sich selbst wieder leiden. "Habt Ihr Euch nicht auch wieder ein bisschen lieb?", fragt er in die Runde der Schicksalsgefährten.
Das ist keineswegs selbstverständlich. Hinter der Sucht stehen oft Selbstzweifel, Depressionen und Ängste, das Gefühl eines unerträglichen Lebens. Für Benjamin Schmidt endete die Leidensspirale mit einem Suizidversuch und einer Zwangseinweisung. Auch er fühlt sich in der ambulanten Therapie gut aufgehoben. "Weil ich so auch meine Familie habe", die sozialen Bezüge nicht verloren gehen. Natürlich sei nicht für jeden Menschen mit einer Suchtproblematik die ambulante Reha die richtige Option, betont Maria Jox-Doppler, die Leiterin der Fachambulanz. Und es komme auch durchaus vor, dass Patienten von sich aus in eine stationäre Rehabilitation wechseln, berichtet die Therapeutin Ulrike Kesternich aus der Praxis.
Wichtig ist den Caritas-Leuten eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme. Sehr gut angenommen wird aktuell die anonyme Beratung über das Internet. Natürlich kann man auch anrufen oder in die "offene Sprechstunde" gehen, die jeden Montag zwischen 10 und 12 Uhr in der Rheinstraße 17 angeboten wird, von Betroffenen, aber auch von Angehörigen genutzt werden kann. "Da stehen immer zwei Berater zur Verfügung. Und es wird auch niemand weggeschickt", verspricht Maria Jox-Doppler.
Der nächste Schritt führt in die Informations- und Motivationsgruppe, in der individuell der richtige Weg gesucht wird. "Es muss jeder eine Einsicht in die Problematik haben und für sich die Entscheidung treffen, das Leben künftig suchtfrei meistern zu wollen", nennt die Leiterin die Voraussetzung und weiß: "Dazu braucht man Unterstützung." Die ambulante Reha dauert zwischen neun und 18 Monaten. Einzel- und Gruppengespräche, die Einbeziehung von Familienangehörigen oder anderen Bezugspersonen gehören zur Therapie, auch spezielle Termine beispielsweise zur Rückfallprävention und Stressbewältigung. Die Maßnahmen werden von Rentenversicherungsträgern, teilweise auch von Krankenkassen bezahlt.
Aus einer gerade veröffentlichten Statistik geht hervor, dass 7,4 Millionen Erwachsene in Deutschland Alkoholprobleme haben. Joachim Bach, der Abteilungsleiter Soziale Dienste der Caritas Wiesbaden-Rheingau-Taunus, stellt den steigenden Bedarf gerade an der deutlichen Zunahme bei den Online-Anfragen fest. "Ein guter Indikator. Natürlich wäre es wünschenswert, das Angebot zu erweitern", bedauert er, dass die Einrichtung an ihre Grenzen stößt. Gleich an zwei Stellen im Jahresbericht wird denn auch die "Reduzierung der Personalkapazität" beklagt.